ein historischer abriss über die 63 jahre ge 6/6 II
Ende der 40er Jahre musste die Rhätische Bahn Ihren Lokomotivpark modernisieren und erweitern. Die 15 Krokodile aus den 1920er Jahren waren nicht mehr in der Lage, die schweren Züge auf den steigungsreichen Strecken mit der nötigen Geschwindigkeit zu befördern. 1947 und 1953 wurden zehn moderne Drehgestelllokomotiven Ge 4/4 I geliefert, die sozusagen eine Schmalspurausgabe der BLS-Lok Ae 4/4 waren. Mit maximal 1600 PS kam auch diese Baureihe schon nach wenigen Einsatzjahren an ihre Leistungsgrenze, so dass eine noch stärkere Lok erforderlich wurde.
Die Lösung war eine sechsachsige Lokomotive, für die viele Komponenten von der Ge 4/4 I übernommen wurden. Technisch entsprechen die Maschinen dem damaligen Stand: (Niederspannungs-)Stufenschalter und Einphasen-Reihenschlussmotoren. Die äusseren beiden Drehgestelle und die Fahrmotoren können mit den Ge 4/4 I ausgetauscht werden. Das Kastengelenk zwischen den beiden Lokhälften erlaubt nur vertikale Bewegungen (um die Querachse), damit Neigungswechsel befahren werden können. Die Ge 6/6 II sind 80 km/h schnell und 65 Tonnen schwer, sie leisten 1776 kW bzw. 2400 PS bei 46 km/h. Die zulässige Anhängelast beträgt 205 t auf 45 ‰ Steigung und 280 t auf 35 ‰. Das mittlere Drehgestell kann sich seitlich ausschwenken, um enge Kurvenradien zu befahren.
Die beiden ersten Loks wurden 1958 von SLM, BBC und MFO zum Stückpreis von 230'000 Franken geliefert und erhielten die Nummern 701 und 702 mit den Namen Raetia und Curia.
Die beiden Vorserienlokomotiven bewährten sich sehr gut, so dass bald weitere fünf Maschinen bestellt und 1965 als 703 bis 707 in Betrieb genommen wurden. Sie waren rund 200'000 CHF teurer als die Vorserienloks.
Lok 701 trug den Namen der römischen Provinz Raetia, der sich bis heute als Synonym für Graubünden erhalten hat, Lok 702 den lateinischen Namen Curia der Kantonshauptstadt Chur. Die restlichen Fahrzeuge 703–707 sind nach grösseren Bündner Gemeinden, welche die Streckenendpunkte am Stammnetz sind, benannt. Neben dem Namen steht auf jeder Lokomotive zusätzlich die Betriebsnummer in weiss sowie das Wappen der Patengemeinde (bei Lok 701 das Kantonswappen).
Technisch sind alle Ge 6/6 II gleich. Die beiden ersten Loks besaßen lediglich schmalere Frontfenster und in der Mitte eine zusätzliche Übergangstüre an den Endführerständen. Später wurden diese Stirntüren verschweißt.
In den 1950er Jahren wurden in Graubünden (vor allem im Bergell) zahlreiche Was- serkraftwerke gebaut. Das brachte den neuen Lokomotiven sofort Aufgaben im schweren Zementverkehr ein. Ähnlich wie am Gotthard, wurden die Zementzüge vorerst mit einer Ge 4/4 I an der Spitze und einer Ge 6/6 II als Zwischenlok nach dem fünften Zementwagen geführt. Da sich jedoch der lose Zementstaub aus den vorderen Wagen bei der Zwischenlok in die Motoren setzte, wurde diese typisch schweizerische Traktionsart bald wieder fallengelassen.
Die Ge 6/6 II verdienten sich während der ersten Jahre ihr Brot primär in diesem schweren Zementverkehr. Anschliessend wurden sie zu den Paradepferden im Schnellzugverkehr auf der Albulastrecke. Dort verbrachten Sie den grössten Teil ihrer Arbeitszeit, bis sie im Jahr 1993 von den brandneuen Ge 4/4 III verdrängt wurden.
Ab 1985 wurden die Führerstände der Vorserienloks 701 und 702 an jene der Serienloks 703-707 angepasst (zwei breite Fenster statt der zwei grossen und dem kleinen Mittelfenster als Überbleibsel der ursprünglichen Übergangstüre in der Stirnseite). Auch in jener Zeit wurden alle Loks auf die heutige rote Farbe umgespritzt. 1998 wurden die Scherenstromabnehmer – wie zuvor schon bei den Ge 4/4 I – durch moderne Einholm-Stromabnehmer ersetzt.
Von grösseren Unfällen blieben die 700er grösstenteils verschont. Ausgerechnet "unsere" Lok mit der Nummer 703 wurde jedoch am 22. November 2011 im Bahnhof Rueun bei einem Zugunglück im Frontbereich schwer beschädigt. Sie war mit ihrem Güterzug frontal auf einen im Bahnhof wartenden Zug (Güterwagen mit Rangiertraktor) geprallt. Grund für diese Kollision war ein Missverständnis zwischen dem Rail Control Center in Landquart und der Besatzung des Bauzugs, die nicht nach den Regeln und missverständlich durchgeführt wurde.
Mit der Indienststellung der Ge 4/4 III wurden die "700er" langsam aber sicher von ihrer Paraderolle als Zugpferd der schweren Albula-Schnellzüge verdrängt. Sie wurden fortan primär im schweren Güterzugsdienst eingesetzt, fanden aber immer wieder einmal ihren Weg vor einen Personenzug. Wo immer etwas Schweres zu ziehen war – die 700er packte es an.
In den 2010er Jahren machten sich langsam Altersbeschwerden bemerkbar. Ferner unterzog die RhB ihre Flotte einer radikalen Erneuerungskur. So wurden in den Jahren 2009/10 15 neue dreiteilige (ABe 8/12) und in den Jahre 2011/12 fünf vierteilige (ABe 4/16) Triebwagenzüge der Serie Allegra von Stadler Rail abgeliefert. Derselbe Hersteller liefert seit 2019 56 vierteilige Triebzüge ABe 4/16 "Capricorn". Diese Triebzüge sind im Begriff, einen Grossteil der Personenzugsleistungen zu übernehmen. Entsprechend werden ältere Loks und Triebwagen obsolet.
Noch bis Ende 2021 wurden die Ge 6/6 II, zusammen mit einigen ihrer kleineren Schwestern der Serie Ge 4/4 I, als Triebfahrzeugreserve bereitgehalten. Während die kleineren Ge 4/4 I noch eine Gnadenfrist erhielten, hat Ende 2021 die letzte Stunde der Ge 6/6 II geschlagen. Nachdem die erste Lok der Serie, die Nummer 701 "Raetia", schon am 10. Februar 2021 der Abbruchzange zum Opfer gefallen war, sind nun alle sechs Schwestern in Landquart abgestellt worden.
Glücklicherweise hat die RhB beschlossen, die Lok 707 "Scuol" und eventuell sogar auch die Lok 705 "Pontresina" als historische Loks zu erhalten. Ursprünglich war die Lok 704 "Davos" für dieses Ehrenamt vorgesehen, sie erlitt allerdings im Jahr 2021 einen gröberen technischen Schaden und wurde darum nicht berücksichtigt.
So bleibt die Hoffnung, dass wenigstens eines der "Rhätischen Kraftpakete" mit ihren gut hörbaren Schaltungen des Niederspannungs-Fahrstufenschalters und dem Knallen der Lastschalter weiterhin auf den Gleisen der RhB zu hören und zu sehen sind.